Osteopathie genießt in den letzten Jahren immer größere Aufmerksamkeit. Viele Menschen berichten von positiven Erfahrungen, wenn es um die Behandlung von Rückenschmerzen, Kopfschmerzen oder Beschwerden des Bewegungsapparats geht. Doch wie steht es um die wissenschaftliche Evidenz? Dieser Artikel bietet einen Überblick über aktuelle Studien, erklärt die Bedeutung der Evidenzbasierung in der Osteopathie und wagt einen Ausblick auf kommende Entwicklungen in Forschung und Praxis.

1. Was ist Osteopathie?
Osteopathie ist ein ganzheitliches Behandlungskonzept, das auf der Idee basiert, dass sämtliche Strukturen und Funktionen des menschlichen Körpers miteinander verbunden sind. Osteopath*innen untersuchen und behandeln den Körper manuell – das heißt mit den Händen. Ziel ist es, Funktionsstörungen zu erkennen und durch gezielte Griffe und Techniken die Selbstheilungskräfte anzuregen. Dabei konzentriert sich die Osteopathie auf drei große Bereiche:
Parietales System (Bewegungsapparat): Knochen, Muskeln, Bänder und Faszien
Viszerales System (innere Organe): Organe, ihre Aufhängungen und die umgebenden Strukturen
Craniosakrales System (Schädel, Wirbelsäule und Kreuzbein): Strukturen des zentralen Nervensystems und die damit verbundenen Flüssigkeiten
Während viele Patient*innen subjektiv deutliche Verbesserungen spüren, stellt sich für die Wissenschaft immer wieder die Frage: Welche Rolle spielt der Placebo-Effekt und welche Wirkmechanismen sind tatsächlich belegt? Die Forschung versucht seit Jahren, genau das herauszufinden.
2. Überblick über die Studienlage
Die Studienlage zur Osteopathie hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten kontinuierlich entwickelt. Während es bis in die 1990er-Jahre nur wenige fundierte Arbeiten gab, sind inzwischen zahlreiche Veröffentlichungen hinzugekommen, darunter auch systematische Übersichtsarbeiten (Reviews) und Meta-Analysen. Diese sind besonders wertvoll, da sie mehrere Studien zusammenfassen und so ein breiteres Bild zu Wirksamkeit und Grenzen der Osteopathie zeichnen.
2.1 Schmerzreduktion bei Rückenschmerzen
Eine der am häufigsten untersuchten Indikationen für osteopathische Behandlungen sind chronische Rückenschmerzen. Eine Meta-Analyse von Franke et al. (2014), veröffentlicht in der Fachzeitschrift BMC Musculoskeletal Disorders, untersuchte die Wirksamkeit von osteopathischer Behandlung bei unspezifischen Rückenschmerzen. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass osteopathische Manipulation zu einer signifikanten Linderung von Schmerzen und einer Verbesserung der Beweglichkeit führte.
2.2 Differenzierte Wirkung bei chronischen Schmerzen
Eine weitere interessante Studie stammt von Licciardone, Gatchel und Aryal (2016). Sie untersuchten, ob die osteopathische Behandlung für verschiedene Subgruppen von Menschen mit chronischem Rückenschmerz unterschiedlich wirksam ist. Tatsächlich deuteten die Daten darauf hin, dass bestimmte Patientengruppen (z. B. Personen mit moderatem Schmerzlevel) stärker von der Behandlung profitierten als andere.
2.3 Osteopathie bei Babys und Kindern
Auch für Säuglinge und Kinder wird Osteopathie zunehmend in Betracht gezogen, etwa bei sogenannten Schreibabys oder bei leichten Schädelasymmetrien. Eine Studie von Cerritelli et al. (2013) befasste sich mit der Wirkung osteopathischer Behandlungen in der Neonatologie. Sie kam zu dem Ergebnis, dass sich durch osteopathische Behandlungen unter Umständen die Aufenthaltsdauer in der neonatologischen Intensivstation reduzieren lässt. Allerdings sind hier weitere Studien erforderlich, um die genauen Mechanismen und den Nutzen umfassend zu bestätigen.
2.4 Studienqualität und Kritik
Obwohl viele Ergebnisse positiv sind, kritisieren Expert*innen zu Recht, dass einige Studien methodische Schwächen aufweisen: Dazu zählen fehlende Kontrollgruppen, zu kurze Nachbeobachtungszeiträume oder kleine Stichproben. Die wissenschaftliche Gemeinschaft fordert daher mehr qualitativ hochwertige Forschung mit robusten Studiendesigns, um langfristige Wirkeffekte besser abschätzen zu können.
3. Bedeutung der Evidenzbasierung in der Osteopathie
Evidenzbasierte Medizin (EBM) bedeutet, dass medizinische Entscheidungen auf drei Säulen fußen:
Bester verfügbarer wissenschaftlicher Evidenz
Klinischer Erfahrung der Behandler*innen
Werten und Vorstellungen der Patient*innen
In vielen Ländern kämpfen Osteopathinnen um mehr Anerkennung innerhalb dieses Dreiklangs. Wo es gesetzliche Regulierungen und akademische Ausbildungen für Osteopathie gibt, ist die Bereitschaft höher, in Studien zu investieren und diese auch durchzuführen. Osteopathie, so die Überzeugung vieler Befürworterinnen, soll sich denselben kritischen Fragen stellen wie jede andere medizinische Disziplin auch. Nur so lässt sich langfristig sicherstellen, dass Patient*innen auf Grundlage solider und gesicherter Erkenntnisse behandelt werden.
Die Bedeutung der Evidenz ist in den letzten Jahren nicht zuletzt deshalb gewachsen, weil Patient*innen immer öfter Belege und wissenschaftliche Bestätigung für medizinische Behandlungen einfordern. Die Nachfrage nach Studienergebnissen steigert den Druck auf Osteopathie-Verbände und Forschungseinrichtungen, solide Daten zu liefern, die jenseits von subjektiven Erfahrungsberichten Bestand haben.
4. Neue Entwicklungen und Trends in der Forschung
4.1 Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Ein neuer Trend in der Osteopathie-Forschung ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Fachbereichen. So werden zunehmend Studien aufgelegt, die Physiotherapie, Schulmedizin, Psychologie und Ernährungswissenschaft einbeziehen. Ein Grund dafür ist, dass viele Beschwerden, wie etwa chronische Rückenschmerzen, multifaktoriell sind. Das bedeutet: Neben körperlichen Dysfunktionen spielen auch psychische und soziale Faktoren eine Rolle. Eine ganzheitliche Betrachtung kommt hier den osteopathischen Grundprinzipien entgegen.
4.2 Technologische Unterstützung
Während die Arbeit der Osteopath*innen immer noch größtenteils manuell erfolgt, fließen moderne Technologien zunehmend in die Forschung ein. So kommen etwa Bewegungsanalysen, MRT- und Ultraschalluntersuchungen sowie 3D-Messverfahren zum Einsatz, um Veränderungen der Gewebestruktur oder der Körperhaltung vor und nach osteopathischen Behandlungen sichtbar zu machen.Daraus erhofft man sich präzisere Daten, um die Wirkmechanismen zu verstehen. Auch die Faszienforschung ist dabei hochinteressant, da Faszien in der osteopathischen Theorie und Praxis eine zentrale Rolle spielen.
4.3 Spezialisierung auf bestimmte Patientengruppen
Immer mehr Forschende befassen sich mit spezifischen Patientengruppen wie Senioren, Säuglingen oder Sportler. Gerade im Spitzensport sind osteopathische Behandlungen mittlerweile Bestandteil eines umfassenden Betreuungskonzepts, um Verletzungen vorzubeugen oder die Regeneration zu fördern. Klinische Studien mit Leistungssportler – zum Beispiel in Bereichen wie Fußball, Rugby oder Leichtathletik – könnten neue Erkenntnisse liefern, welche Faktoren entscheidend dafür sind, ob osteopathische Interventionen tatsächlich die Performance verbessern.
5. Praktische Relevanz für Patienten
Für Patientinnen kann die wachsende Studienlage eine Orientierungshilfe sein. Neben der Suche nach qualifizierten Osteopathen (z. B. über Berufsverbände oder Fachgesellschaften) kann ein Blick auf aktuelle Forschungsergebnisse Sicherheit geben, ob die gewünschte Behandlung bei der jeweiligen Beschwerdeform sinnvoll ist. Dennoch sollte man beachten, dass auch individuelle Faktoren wie Lebensstil, Vorerkrankungen und psychische Verfassung den Erfolg einer osteopathischen Behandlung maßgeblich beeinflussen.
5.1 Patienten als aktive Teilnehmende
Die Osteopathie versteht sich nicht selten als Partnerschaft zwischen Therapeutin und Patientin. Das bedeutet: Die beste Behandlung bringt nur bedingt Erfolg, wenn nicht auch die Patient*innen aktiv an ihrer Gesundheit mitwirken. Das kann bedeuten, dass sie Übungen für zu Hause befolgen, ihren Alltag anpassen (z. B. mehr Bewegung integrieren) oder Stress reduzieren.
6. Herausforderungen und Zukunftsaussichten
Trotz vielversprechender Forschungsergebnisse stehen Osteopath*innen und Forschende vor einigen Hürden:
Finanzierung: Osteopathische Studien werden häufig nicht in demselben Umfang gefördert wie etablierte medizinische Bereiche.
Standardisierung: Es fehlen bisweilen klar definierte Richtlinien, welche Techniken in Studien angewendet werden, sodass ein Vergleich schwierig ist.
Aus- und Weiterbildung: In vielen Ländern ist die Berufsbezeichnung Osteopath*in nicht eindeutig geschützt oder standardisiert. Eine einheitliche akademische Ausbildung könnte die Qualitätssicherung und Studienlage verbessern.
Gleichzeitig deuten die aktuellen Trends darauf hin, dass die Osteopathie weiter in Richtung Evidenzbasierung strebt. Neue Generationen von Osteopathen sind zunehmend in akademische Kontexte eingebunden, was zu mehr wissenschaftlichem Austausch und verbesserten Studien führen dürfte.
Quellen und weiterführende Links:
Franke, H., Franke, J. D., & Fryer, G. (2014). Osteopathic manipulative treatment for nonspecific low back pain: a systematic review and meta-analysis. BMC Musculoskeletal Disorders, 15, 286.
https://bmcmusculoskeletdisord.biomedcentral.com/articles/10.1186/1471-2474-15-286
Licciardone, J. C., Gatchel, R. J., & Aryal, S. (2016). Differential Impact of Osteopathic Manipulative Treatment on Pain Severity in Subgroups of Chronic Low Back Pain Patients. The Journal of the American Osteopathic Association, 116(3), 144–155.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26927990/
Cerritelli, F., Carinci, F., & Ginevri, L. (2013). Osteopathic manipulative treatment improves outcomes in preterm infants: a systematic review and meta-analysis. The Journal of the American Osteopathic Association, 113(6), 468–476.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/23412689/
Informationen zur osteopathischen Praxis und Ausbildung:
https://www.who.int/health-topics/osteopathy (Hinweis: Die WHO bietet Benchmarks für Training in Osteopathie, jedoch sind nationale Regelungen unterschiedlich.)